Vintage, Krieg und Freiwilligentätigkeit

Die Geschichte eines Unternehmens aus Charkiw, das unter Kriegsbedingungen überlebt, um den Leuten zu helfen

Der Krieg trennte das Leben von zwei Charkiwerinnen, wie auch das Leben aller Ukrainer, in „Davor“ und „Danach“. Im „Davor“ blieb ein kleines erfolgreiches Unternehmen, geregeltes Leben im Alltag, gewöhnliche Sorgen um die Familie, Träume und Pläne. Der „Danach“ startete mit Beschießungen von Charkiw, militärische Besatzung eines Teils der Region, ganz neuen Herausforderungen für das Leben und unvermeidlichen Schwierigkeiten für die Tätigkeit, der Mascha und Nastja viele Jahre gewidmet haben. Es gelang ihnen, nicht nur ihr Unternehmen zu retten, sondern auch die Hilfe für Tausende von Zivilisten und die ukrainischen Streitkräfte (USK) zu organisieren.

Weiter erzählt Mascha, die, wie Millionen von anderen Ukrainern, den Kampf nicht aufgab.
VINTAGE
Die Idee entstand, als Nastja in eine alte Professorenwohnung, die voll mit gebrauchtem Gerümpel war, umgezogen ist. Statt das alles wegzuwerfen, startete sie alles zu sortieren und zu untersuchen. Sie fand die Plattform Etsy und bot da ein paar Dinge zum Verkauf an – eine Schatulle, Marken und Ähnliches. Sie rief bei mir an: „Mascha, wir sollen das irgendwie schön fotografieren“.

Damals waren wir beide im Mutterschutz und konnten in Vollzeit nicht arbeiten. Nastja war Notarin, und ich – Fotografin. Und dann ging es schrittweise los. Erste kleine Verkäufe („Aaaaah, wir verdienten 1000 USD!“), erste Schwierigkeiten, Fehler und Herausforderungen.
Zuerst verkauften wir die alten Dinge aus der Wohnung. Dann gingen wir zum Flohmarkt, dann – zu einem anderen. Einmal vor dem Neujahr fanden wir die Weihnachtsbaumfiguren aus der Sowjetzeit. Ich erinnere mich an das Gespräch damals: „Vielleicht, sollen wir uns damit nicht beschäftigen? Sie sind zerbrechlich, es ist schwer, sie zu verpacken – und wer braucht sie überhaupt…“

Wir entschieden uns zu versuchen. Und gerade Schmuck für Weihnachtsbäume wurde zu unserem Schwerpunkt – die Inspiration und Basis des ganzen Unternehmens. Solch ein fragiles Geschäft. Heute zählt unsere Sammlung von Vintage-Weihnachtsbaumfiguren etwa 60.000 Stück. Von einfachen Kügelchen und Zapfen bis hin zu echten Raritäten.


Zuerst befand sich die Ware auf einigen Regalen bei Nastja. Dann ist das Ganze zu mir umgezogen und nahm ein ganzes Zimmer ein.

Später wagten wir, eine separate Räumlichkeit zu mieten und sogar einen Arbeiter anzustellen – für die Unterstützung beim Verpacken.

Am 24. Februar 2022 bestand das Projekt Grannysbox aus drei Geschäften + noch drei in Partnerschaft, 10 Angestellten und einem 80 Quadratmeter Lager, voll mit Weihnachtsbaumschmuck – bis zur Deckenhöhe gefüllt.
KRIEG
Wir beide waren voll im Stress, den ganzen Februar schon. Am 22. Februar war mein Geburtstag. Und mein Vater und Bruder machten mir ein Geschenk – eine Reise nach Bukowel. Noch am 17. Februar sagte ich: „Wie kann ich fahren? Ihr seid doch verrückt“. Und dann haben wir uns beruhigt. Weil ES UNMÖGLICH WAR.

Und ich fuhr. Und auch Nastja fuhr – für drei Tage nach Barcelona, mit der ältesten Tochter.

Wir machen gleichzeitig Urlaub fast nie. Aber das waren nur drei Tage, alles war unter Kontrolle, hin und zurück – und weiterarbeiten. Und unsere einzige Stellvertreterin fuhr mit Kindern nach Kyjiw fürs Wochenende und hielt sich dort aus Familiengründen auf.
Und so waren wir alle am frühen Morgen des 24. Februar weiß der Teufel wo. Ich war in Mykulytschyn, Nastja – in Barcelona, Alina – in Kyjiw. Anja – auf Piwnitschna Saltivka, Wlad und Wira – auf Oleksijiwka. Freelancer – auch an verschiedensten Orten.

Und alle unsere 60.000 Figuren und alles andere – Porzellan, Kelche, Kleidung aus 50-er, Bücher, Broschen, Messingwaren, Vasen – blieben im Büro auf Soyfer-Straße. Das Büro haben wir am Mittwoch „wie üblich“ verlassen: eine Tasse, die jemand nicht gewaschen hat, Hausschuhe, Gebäck in der Küche, Blumen auf dem Fensterbrett.

Alle Kastenmarkierungen, Taschen mit Überlebensausrüstung und Goldsammlung, Evakuierungspläne – alles wurde vernichtet.

Die ersten Tage waren wie ein endloser Alptraum im Nebel. Ich war in Karpaten, Kinder, Haustiere, Eltern – in Charkiw. Nastja’s zweijähriger Sohn blieb in der Stadt auch. Ich fuhr zurück mit lange verspäteten Zügen, die in Feldern ohne Licht standen, mit immer neuen Nachrichten und dem schrecklichen Gefühl, dass ich das nicht schaffe und „sie“ in die Stadt eindringen.

Sie kamen zum Glück nicht rein.
Ich fuhr mit meiner Familie zum Sommerhaus im Vorort der Stadt. Mithilfe von vielen Menschen gelang es Nastja, ihren Sohn nach Deutschland zu holen, und jetzt ist sie noch dort für unbestimmte Zeit.

Ich war wieder mit meinen Kindern zusammen, die ganze Familie kam ins Sommerhaus zusammen. Es gelang uns dort, die Beheizung einzurichten und Lebensmittel zu finden, und dann sank die anfängliche Panik langsam und der Überlebensmodus schaltete sich ein.

Etsy aktivierte „Betriebsferien“ für alle ukrainischen Geschäfte. Wir wussten nicht, wie die Post arbeiten wird. Wir verstanden nicht, ob wir nach Charkiw wieder fahren können.
Wir schrieben allen Kunden, die offene Aufträge hatten, erklärten die Situation und boten an, die Rückerstattung zu machen. Niemand stimmte zu: alle sagten, sie werden warten und vertrauen, dass wir die Waren später verschicken können.
Besonderer Dank und Segen an „Nova Poshta“ (unser Postdienst): sie sind fantastisch und nahmen die Arbeit schon in der ersten Woche wieder auf. Ich erfuhr, dass eine Abteilung 17 km von unserem Sommerhaus entfernt geöffnet wurde. Dann verstanden wir, dass wir irgendwie arbeiten können.


Ungefähr 10 Tage nach dem Beginn des Kriegs fuhr ich zum ersten Mal wieder nach Charkiw. Zum Glück befindet sich unser Büro im Stadtzentrum. Ich musste zumindest einige Sachen abholen und zum Sommerhaus bringen. Ich packte einige Lebensmittel für die Nachbarschaft ein, schrieb eine Meldung in den Chat unseres Mehrfamilienhauses – und die Leute, mit denen wir uns früher fast nie trafen, kamen sofort und halfen mir, das Auto zu beladen: Auftragsware, Verpackungen, andere Sachen, die ich einfach transportieren konnte.
Das Auto war voll. Aber im Büro war es nicht mal klar ersichtlich, was weggebracht wurde. Ich machte vier solche Fahrten und holte einige Artikel aus drei Geschäften, PC, Drucker. Es gelang mir, die ersten Aufträge zu versenden.

Wir richteten einen kleinen Lagerraum auf der Veranda ein. Die ganze Familie half mir, die Aufträge zu bearbeiten und zu verpacken – besonders meine 84-jährige Oma.

Die Volontärinnen aus Poltawa haben für uns Hundert Fähnlein genäht. Und ich begann sie, in jedes Päckchen beizulegen, dazu auch einen kleinen Zettel mit Danksagung für die Unterstützung. Und auch das Datum: 5. März 2022, Oblast Charkiw, Ukraine.

Wir zahlten für alle den Lohn für Februar aus. Dann – in März. Zwei Arbeiter blieben in Charkiw und arbeiteten weiter – zuerst aus der Ferne, ab Mai meistens im Büro. Alle, die aus der Distanz arbeiteten, machen das auch weiter.

Nastja kauft die schönen Dinge an Krammärkten Deutschlands und schickt sie von dort.
FREIWILLIGEN-TÄTIGKEIT
Am dritten Tag des Kriegs hatte ich die Idee, die digitalen Produkte für Spenden zu inserieren. Ich malte einen gelb-blauen Herz und stellte dieses Bild auf Etsy für 5 USD zum Verkauf ein. Außerdem schrieb ich eine Meldung, dass wir das gesamte Geld aus diesem Listing den Ukrainischen Streitkräften und Volontären übergeben werden. Und sie wurden gekauft. Einmal, zweimal, zehn.

Die Freunde aus den Vereinigten Staaten baten mir, für sie dieses Verkaufsangebot für 500 USD zu machen, damit sie uns das Geld überweisen können. Ich habe dies getan, und in der nächsten Minute wurde das digitale Produkt von unbekannten Leuten gekauft. Im ersten Tag sammelten wir über 2.000 USD.

Wir dachten, dass wir diese Spenden eine Zeitlang sammeln, alles den Ukrainischen Streitkräften übergeben und dann kommt schon der Sieg…

Jetzt ist es August. Während dieser Zeit sammelten wir insgesamt über 80.000 USD
Das Angebot mit Herzchen haben wir mit Kinderzeichnungen, T-Shirts und Souvenirs erweitert. Während der ersten 100 Tage schrieb ich ein Tagesbuch und veröffentlichte das täglich in Instagram und auf der Seite des Geschäfts. Jetzt machen wir wöchentliche Reporte.

Unsere Kunden in Japan machten eine Ausstellung “100 Tage des Kriegs” mit unseren Fotos und Texten.
Zuerst benutzten wir das gesammelte Geld ziemlich chaotisch – wir kauften etwas, machten Spenden für andere. Dann begannen wir den Leuten mit Medikamenten zu helfen, weil damals es fast unmöglich war, viele Arzneien in Charkiw zu finden. Ein Team bestehend aus Freunden kaufte sie in Poltawa und Krementschuk ein, transportierte sie nach Charkiw mit verschiedenen Autos und dort lieferten die Volontäre sie zu den Empfängern an deren Adressen.

Seit April erhielten wir zunehmend auch Hilfegesuche für Lebensmittel. Zu jenem Zeitpunkt fuhr ich jede Woche nach Charkiw und wusste, dass dort das Warenangebot in Supermärkten schon ausreichend ist. Wir organisierten wöchentliche Einkäufe, Sortierung, Verpackung und Entladung im Büro.
Durchschnittlich liefern wir jede Woche Lebensmittel an 40 bis 50 Adressen.
Alleinlebende, Behinderte, Mütter mit Kindern, Leute, die viele verlassene Haustiere füttern, Leute in aussichtsloser Situation, die überall Absagen erhalten.

Wir liefern, die Empfänger übergeben unsere Kontaktdaten weiter, wir haben immer mehr Anfragen – und immer weniger Geld.

In der jetzigen Situation müssen wir alle Anfragen umgehend sortieren und dabei die „Jäger humanitärer Hilfe“ und jene, die nicht in der kritischen Lage sind, ausfiltern. Aber es gibt weiterhin noch sehr viele Anfragen, die wirklich kritisch sind. Wir haben ein Basis-Lebensmittelpaket zusammengestellt, wir kaufen Arzneien unter Kontrolle der Pharmazeutin und haben drei Autos für die Zulieferung.


Eine separate Geschichte ist die Unterstützung für unsere Streitkräfte.

Seit Februar kauften und übergaben wir Dutzende von Panzerwesten, Helmen und verschiedene Ausrüstungen im Gesamtwert von Hunderttausenden Hrywnas. Wir kauften und übergaben schon zwei Pickups.

Erste-Hilfe-Sets, Staubinden, Medikamente – wir haben nicht mal gezählt, wie viele es waren. Und damit enden die Anfragen nicht, aber die Geldmittel gehen sehr schnell aus.
Im Juli haben wir festgestellt, dass wir nicht genügend Spenden erhalten, um die Bedürfnisse zu decken. Für die letzte Anlieferung suchten wir Geld zum ersten Mal über Facebook. Wir konnten den Betrag sammeln und das Notwendige liefern. Wie wir das weiter umsetzen können, wissen wir noch nicht.

Wir wenden uns an verschiedene Stiftungen, aber dieser Vorgang wird immer schwieriger überall. Aber wir werden weiterarbeiten, solange wir die kleinste Möglichkeit dafür haben.
Heute besteht unsere Aufgabe darin, die Arbeit des Geschäfts so gut es geht aufrechtzuerhalten, damit es zum Beginn der Saison wieder Profit bringt und wir einen Teil des Ertrags weiter für die Freiwilligentätigkeit spenden können.

Parallel suchen wir nach Leuten, die uns unterstützen, damit wir auch Hilfe leisten können.

Unser Büro war und ist in Charkiw. Ich hoffe, es bleibt weiterhin dort.
Wir glauben an USK und Ukraine.
Wir arbeiten für den Sieg.

Details, wenn Sie helfen möchten:

PayPal: Grannysboxetsy@gmail.com